zuerst erschienen in DIE BRÜCKE Nr. 39, Dez 2023 |
Die Signatur des Möglichen
Ein Text von Andrea K. Schlehwein
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Die Kunstform Tanz, die ephemerste und facettenreichste aller aktuellen Künste, ist ob ihrer immanent breit gefächerten Möglichkeiten prädestiniert, als Vertreterin zeitgenössischer Ästhetik und gesellschaftskritischer Reflektion zu agieren.
Heute gibt es weder den einen Tanz noch den einen ‚Tanz-Raum‘. Jede zeitgenössische Choreographie bringt ihren eigenen Tanz hervor, jede Tanzproduktion definiert jeweils den Raum neu, den sich Zuschauer:- und Künstler:innen im Moment der Aufführung als lebendigen Resonanzraum teilen.
Charakterisiert durch Neugier und Resilienz, durch Risikobereitschaft und Raumerkundung, durch Verschiebung bestehender ästhetischer wie konventioneller Grenzen, geprägt durch multimediale Interdisziplinarität, Integration neuer Formate und Phänomene, der Inklusion von Diversitätsgedanken und Offenheit für Subkulturen, transformiert der zeitgenössische Tanz auf direktem Wege heutige Erfahrungs- und Wirklichkeitsmuster und setzt stimulierende Impulse - hinaus über den flexibel zu definierenden Kunstraum ‚Theater‘, hinein in den gesellschaftlichen Realitätsraum.
Die Tanzkunst ist gestalteter Ausdruck unserer irritierend verstörenden, global geprägten Gegenwart. Sie ist eine perfekte Metapher für die Fragilität des menschlichen Lebens, verschwindet sie doch einen Wimpernschlag nach dem Moment ihrer Manifestation. Die Tänzer:innen gestalten den Raum in Echtzeit und arbeiten in einer Ausdrucksform, die sich ständig im Zustand des Verschwindens befindet. Ensembles und Tanzkollektive setzen sichtbare Akzente, sind sie doch international besetzt und zeigen, wie heute eine einende Sprache auf multikultureller, fachlich relevanter Basis adaptiert und gesprochen werden kann.
Räume sind veränderbare Gebilde. Der tanzende Mensch selbst ist ein in sich bewegter wie emotional bewegender Raum. Seine Kinesphäre steht im regen Austausch mit dem weiteren Umfeld. Wechselwirkungen entstehen, Bewusstsein für situative Wahrnehmung wird geschärft, zeitkritische Zeichen und Bilder-in-Motion politisch agierender Körper werden im Konnex des jeweiligen choreographischen Konzeptes abgebildet.
Als Experimentierfeld für sorgfältig gearbeitete Kunstkonzepte kann Tanz heute selbstbewusst überall stattfinden. Urbane Räume und Naturlandschaften werden zu Kunstvenues. Tanz behauptet sich an den ungewöhnlichsten Orten, dehnt deren architektonische Begrenzung und erweitert sie um inhaltliche Komponenten. Es bilden sich Laboratorien ästhetischer wie tanztheoretischer Modelle, in denen sich unerwartet Substantielles im Dialog zwischen Territorium und Situation, Klima und Krise, Individuum und Gesellschaft herauskristallisiert.
Die Aufhebung der Zentralperspektive, der Geometrie klassischer Bühnenchoreographie, hat tiefgreifenden Wandel initiiert. Seither findet im Tanz konstante Veränderung statt: die Befreiung vom festen Bewegungskanon des Balletts, von vordefinierter Publikumserwartung, die Auflösung der klassischen Ordnung eines klar definierten Raum-Zeit-Gefüges in der Guckkastenbühne mit eigens für den Tanz komponierter Musik.
In tanztheoretischer wie gesellschaftsperspektivischer Ausrichtung findet ein konstanter Paradigmenwechsel in der Bewegungskunst statt. Substantiell bleiben die dem Tanz innewohnenden Gestaltungskriterien: Raum, Zeit, Form, Dynamik/Phrasierung. Diese sind für alle Stilrichtungen und Epochen der Tanzgeschichte integrale Faktoren. Sie eint ein raumsprengendes Anliegen, die Ausrichtung in die Vertikale, die Überwindung der Schwerkraft im Moment des Fliegens als Ausdruck eines uralten Menschheitswunsches, Kulturkreise übergreifend, der Dynamik und dem Rausch verpflichtet, überbordend und bildgewaltig.
Die Auseinandersetzung mit dem Elevationsprinzip geht mit einer ständigen Verschiebung von theoretischen wie praktischen Grenzen einher und weit über die Beherrschung reiner Tanztechnik und Stilbewusstsein hinaus. Wer fliegen will, kann dies nicht trainieren, proben und physisch denken, ohne die Welt im Blick zu haben. Vorausgesetzt ist ein humanistisches Weltbild, ein geschärftes Bewusstsein für den umgebenden - auch sozialen - Raum und die sich jeweils bietenden Chancen wie Barrieren.
Räume als Orte der Kunst haben sich fundamental neu orientiert. Bildstarke Blickwinkel erobern unkonventionelle Areale und geben ihnen eine neue Bedeutung. Wirklichkeit will verstanden, abgebildet und benannt werden. Heute wird ein urbaner Alltagsraum zum Kunstraum transformiert, in dem nach wie vor die Tanzkunst bestimmende Anliegen formuliert werden. Eine multiperspektivische Gleichberechtigung in Choreographie und Tanz erlaubt die Wahrnehmung des Raumes als eine in sich veränderbare, dreidimensionale Skulptur, die definiert wird durch permeable, mobile Konturen, durch Objekte und Subjekte, Ideen und Gedanken.
Ob aus prekärer Not oder Sinn für spannende Narration, dem zeitgenössischen Tanz liegt eine flexible Organisationsform zu Grunde, die risikobereit und frech alternative, bühnenraumferne Gebiete erforscht, ästhetisch mehrdimensionale Konzepte neu definiert und Themen wie Gesellschaftskritik, Chaos, Gewalt, Transgression, Hierarchie, Synergetik und offene Systeme auf tanztheoretischer, naturwissenschaftlicher und künstlerisch-ästhetischer Ebene auf ihre Tauglichkeit hin überprüft.
Genuine Darstellungsmöglichkeiten werden ergriffen, Handlungen müssen weder linear noch narrativ verlaufen, unterschiedliche Ereignisse sind in Simultaneität inszeniert, das Spiel mit dem Zufall und koordinierenden Tools visualisiert Strukturen und deren Zerfall, die Diskontinuität von Figuren, den Verzicht auf identifizierbare Räume.
Dialog findet mehrdimensional in alle Richtungen statt, vom Zentrum zur Peripherie und umgekehrt, als Diagonale oder Spirale, auf räumlichen und binnenkörperlichen Metaebenen, letztlich als Geometrie überwindende Raumfigur, ob Kunst oder soziales Ereignis, als singuläre Landschaft in gesellschaftlichem Kontext.
Mehr denn je zuvor ist eine Tanzkünstler:in ein Individuum. Verkörpert zeitgemäß die Einheit von Körper, Seele, Geist, ist ein lebendiges, kritisches Statement, das die systemische Enge von kultureller Tradition und Ausbildung hinter sich lässt; Genderklischees hinterfragt und Identität neu definiert; sie flexibel adaptiert auf die Gesetzmäßigkeiten eines sich durch Kriege und Krisen beständig verändernden Weltraumes.
Unsere Körper sind heute ebenso privat wie politisch, sind Ort und Raum des kulturellen Bewusstseins, des Widerstands und der politischen Aktion.
+++ ENGLISH +++
PLACE of Action : Body
SPACE of Art : DANCE
The Signature of Possibility
A text by Andrea K. Schlehwein
The art of dance, the most ephemeral and multifaceted of all current art forms, due to its intrinsically versatile potential is predestined to act as a proxy of contemporary aesthetics and socio-critical reflection.
Today, there is not just the one dance or the one 'dance space'. Each contemporary choreography develops its own dance, each dance production redefines the space that viewers and artists share in the moment of the performance as a living, resonating space.
Characterized by curiosity and resilience, by risk-taking and an exploration of space, by challenging existing aesthetic and conventional boundaries, shaped by multimedia interdisciplinarity, by integrating new formats and phenomena, by including ideas of diversity and an openness to subcultures, contemporary dance directly transforms current patterns of experience and reality and provides stimulating impulses – out of the flexibly defined art space 'theatre‘, into the space of social reality.
The art of dance is a creative expression of our irritatingly unsettling globalized present. It is a perfect metaphor for the fragility of human life, as it disappears in a blink of an eye after the moment of its manifestation. Dancers shape the space in real time and work in a form of expression that is constantly in a state of disappearance. Ensembles and dance collectives set visible accents with their international casts and show how a unifying language can be adapted and spoken on a multicultural, technically relevant basis.
Spaces are changeable structures. The dancing body itself is a space in motion as well as emotionally moving. Its kinesphere is in a lively dialogue with the wider environment. Interrelations emerge, the awareness of situational perception is sharpened, sociocritical signs and images-in-motion of politically acting bodies are depicted in the context of the respective choreographic concept.
Dance, as an experimental field for carefully crafted art concepts, can take place anywhere these days. Urban spaces and natural landscapes are turned into art venues. Dance asserts itself in the most unusual places, stretches their architectural boundaries and expands them to include thematic components. Laboratories for aesthetic and dance-theoretical models are established, in which something unexpectedly substantial emerges from a dialogue between territory and situation, climate and crisis, individual and society.
The abolition of the central perspective and the geometry of classical stage choreography has initiated a profound change. Since then, dance has constantly been transforming: the liberation from the fixed movement canon of ballet, from predefined audience expectations, the dissolution of the classical order of a clearly defined space-time structure in the proscenium stage with music specifically composed for dance.
In terms of dance theory and social perspective, a constant paradigm shift is taking place in the art of movement. What remains essential are the formative criteria inherent to dance: space, time, form, dynamics/phrasing. These are integral factors for all styles and eras of dance history. They are united by a concern for the expansion of space, the vertical orientation, the defiance of gravity in the moment of flight as an expression of an ancient human desire, across cultures, committed to dynamism and intoxication, exuberant and visually powerful.
Exploring the elevation principle goes hand in hand with a constant shifting of theoretical and practical boundaries and far beyond the mastery of pure dance technique and stylistic awareness. Whoever wants to fly cannot train, rehearse and physically think this without keeping an eye on the world. The prerequisite is a humanistic worldview, a heightened awareness of the surrounding – also social – space and all the opportunities and barriers that present themselves.
Spaces as art locations have undergone a fundamental reorientation. Visually strong perspectives conquer unconventional settings and give them a new meaning. Reality wants to be understood, depicted and named. Today, everyday urban spaces are being transformed into art spaces in which concerns determining the art of dance continue to be formulated. A multi-perspective equality in choreography and dance allows for a perception of space as a mutable, three-dimensional sculpture that is defined by permeable, mobile contours, by objects and subjects, ideas and thoughts.
Whether out of a precarious need or a thirst for exciting narration, contemporary dance is based on a flexible mode of organisation that is keen to take risks and boldly explores alternative territories far beyond the stage, aesthetically redefines multidimensional concepts and examines the viability of topics such as social critique, chaos, violence, transgression, hierarchy, synergetics and open systems on dance-theoretical, scientific and artistic-aesthetic levels.
Genuine modes of expression are embraced, plots do not have to be linear or narrative, disparate events are staged simultaneously, the play with chance and coordination tools visualizes structures and their disintegration, the discontinuity of characters and the renunciation of identifiable spaces.
Dialogue takes place multidimensionally in all directions, from the centre to the periphery and vice versa, in diagonals or spirals, on spatial and intracorporeal meta levels, ultimately as a spatial figure that transcends geometry, be it art or social event, as a singular landscape in a social context.
Now more than ever, dance artists are individuals. Embodying the unity of body, soul and mind in line with the times; existing as living, critical statements overcoming the systemic narrowness of cultural tradition and education; questioning gender clichés and redefining identity; flexibly adapting them to the laws of a world space that is constantly changing due to wars and crises.
Today, our bodies are as private as they are political; they are the site and space of cultural awareness, resistance and political action.
Translation: Roman Zotter